...ein grosser Etikettenschwindel in Europa
Grundsätzlich steht jedem und jeder frei, wie er oder sie sich ernähren möchte – was tun aber, wenn die Information über Lebensmitteln, etwa wegen einer undurchsichtigen Etikettierung, zu Fehlentscheidungen führt?
Die Debatte um Stevia liefert uns diesbezüglich ein Paradebeispiel: jahrelang hat die Verbraucherzentrale Südtirol in internationaler Zusammenarbeit für die legale Nutzung der grünen (bzw. der getrockneten) Pflanzenblätter gearbeitet, nur ist diese auch heute noch nicht erreicht. Statt dessen finden die Konsumenten nun einen neuen Süßstoff auf dem Markt (E960), der fälschlicherweise als natürlich angepriesen wird!
Stevia Rebaudiana Bertoni
Das ist der botanische Name der Stevia-Pflanze. Sie gehört einer Familie von Staudengewächsen an, welche ihren Ursprung in Südamerika hat. Dem Schweizer Botaniker Moisés Bertoni ist es zu verdanken, dass die Pflanze vor gut 100 Jahren zum ersten Mal weltweit bekannt wurde.
Zuckerkraut ohne Kalorien
Die Blätter der Stevia-Pflanze sind bis zu 45 Mal süsser als Zucker und haben keine Kalorien. Diabetiker wissen besonders zu schätzen, dass diese Süsse keinen Einfluss auf den Blutzuckerspiegel hat. Ihre Süsse verdankt die Stevia-Pflanze den Steviolglykosiden (u.a. Steviosid und Rebaudiosid A), die in den Blättern enthalten sind. Die Blätter können im Haushalt frisch, getrocknet oder in Wasser angesetzt verwendet werden. Der Pflanze werden außerdem blutdrucksenkende, blutzuckerregulierende sowie karieshemmende Eigenschaften zugeschrieben. Sie gedeiht auch auf dem Balkon und wird von vielen Gärtnereien, z.B. auch von den Bezirksgemeinschaften in Südtirol angeboten. Bisher haben die europäischen Behörden die gesundheitliche Unbedenklichkeit der Pflanze aufgrund unzureichender wissenschaftlicher Belege nicht bestätigt. Deswegen ist die Pflanze in Europa nach wie vor nicht als Lebensmittel zugelassen. Die potenziell toxikologisch bedenklichen Substanzen gelten jedoch im Endprodukt Süßstoff, d.h. nach dem aufwändigen Prozess der Aufreinigung als entfernt. Dennoch gibt es Grenzwerte für die tägliche Aufnahme über Lebensmittel (aktuell 4mg pro Kg Körpergewicht am Tag). Diese Menge gilt bei lebenslangem täglichem Verzehr als sicher, sollte jedoch nicht überschritten werden.
Das grosse Geschäft - auf Kosten der Pflanze
Verschiedene Konzerne üben seit Jahren Druck auf die Lebensmittelbehörden aus, um vor allem Getränke mit „natürlichen“ Süßstoffen aufwerten zu dürfen.
Die EU hat 2011 ausschließlich die Steviol-Glykosiden als Zusatzstoff zur Süßung von Lebensmitteln zugelassen. Diese sind nicht mit der Stevia-Pflanze bzw. deren Blättern gleichzusetzen, sondern werden aus nur 2,5% Pflanzenanteil aufwändig gewonnen. Die Herstellung braucht große Mengen an Wasser, außerdem wird der Rohstoff mit Absorberharzen entfärbt, entsalzt, konzentriert und kristallisiert. Problematisch ist besonders die sogenannte „Fällung“ mit Salzen wie z.B. Aluminium-Sulfat und deren Entsorgung. Die Herstellung erfolgt meist in China.
Steviolglykoside sind für bestimmte Lebensmittel wie Erfrischungsgetränke, zuckerfreie Süßigkeiten, Joghurt, Kaugummi und Tafelsüße (Süßstoffe in fester oder flüssiger Form) erlaubt.
Bio-Stevia existiert nicht als Lebensmittel
Die europäische Bio-Verordnung sieht grundsäzlich nicht vor, dass ein Süßstoff die Bio-Zertifizierung erhält. Bio-Aussagen sind somit in Bezug auf Steviolglykosiden nicht erlaubt, und Bio-Lebensmittel dürfen auch kein E 960 enthalten. Auch wenn die Stevia-Pflanze aus biologischem Landbau stammt, sind ihre Blätter (ganz oder gemahlen, getrocknet, usw.) nicht als Lebensmittel zugelassen, sondern lediglich für kosmetische Zwecke.
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Ein grünes Blatt suggeriert Natürlichkeit |
Auf Lebensmitteln mit E 960 findet sich fälschlicherweise oft der Hinweis „Stevia“, häufig in Zusammenhang mit der Abbildung eines grünen Blattes. Damit wird Natürlich-keit suggeriert. Staaten wie Kanada oder Österreich haben längst eigene Richtlinien erlassen, damit der Name „Stevia“ nicht zur Bezeichnung der industriell erzeugten Steviolglykosiden verwendet werden darf. Die Verbraucherzentrale Südtirol hat bei der italienischen Wettbewerbsbehörde verschiedene Abbildungen und Werbe-Aussagen von Anbietern angezeigt, welche aufgrund ihres Verweises auf die Natürlichkeit des Süßstoffes als irreführend eingestuft werden sollten.
Stevia kommt nie alleine
Zum einen die gesetzlich festgeschriebenen Höchstmengen, zum Anderen der lakritzartige Nachgeschmack, oder das geringe Volumen des Süßstoffes und daraus folgende Probleme mit der Konsistenz von Zubereitungen: es gibt mehrere Gründe, warum Steviolglykoside praktisch nie alleine eingesetzt werden. Meist werden sie in Kombination mit Haushaltszucker, Zuckeraustauschstoffen (Erythrit, Isomalt, Maltit, Sorbit, Xylit) oder gemeinsam mit anderen Süßstoffen eingesetzt, z.B. mit Aspartam, Cyclamat, Thaumatin oder Sucralose. Viele Produkte, die Steviolglykoside enthalten, sind daher nicht kalorienfrei, sondern bestenfalls kalorienreduziert.
WAS TUN?
Eine Verringerung der Zuckerzufuhr über gesüßte Speisen ist absolut sinnvoll. Das Ersetzen von Zucker durch Süßstoffe macht dabei aber begrenzt Sinn. Oft wird Zucker zwar teilweise ersetzt, der Kaloriengehalt ändert sich dadurch aber nur geringfügig oder bleibt gar unverändert. Steviolglykosiden stellen dabei nur einen Sußstoff unter vielen dar. Weder bieten sie gegenüber anderen Süßstoffen Vorteile, noch sind sie eine natürliche Alternative.
Die Stiftung Warentest hat bei Limonaden und anderen Produkten jeweils die konventionelle mit der E960 gesüßten Variante verglichen und bei letzterer meist einen bitteren Nachgeschmack festgestellt. Auch gaben die Testpersonen an, dass auf der Zunge ein stumpfes, belegtes Gefühl entstand.
Am wirkungsvollsten wird die Zuckerzufuhr durch die Verwendung von frischen, unver-arbeiteten, ungesüßten Lebensmitteln und einen nur maßvollen Verzehr von Süßigkeiten reduziert.
Was wäre übrigens mit einer schönen Stevia-Pflanze auf dem Balkon?
Der Schweizer Verein ProStevia hat in Zusammenarbeit mit EvB (Erklärung von Bern), Universität Hohenheim und Forschungsanstalten in Südamerika die umfangreiche Broschüre „Der bitter-süsse Geschmack von Stevia“ herausgegeben. Diese können Sie bei der Verbraucherzentrale Südtirol gegen eine kleine Spende beziehen. |